Lorenzo Senni

Am 24. April 2020 wird der Italiener Lorenzo Senni sein neues Album Scacco Matto veröffentlichen. Es handelt sich dabei um seinen fünften Longplayer und zugleich um sein offizielles Debütalbum für Warp Records. Knapp vier Jahre liegt die Veröffentlichung seiner gefeierten EP Persona (die bereits bei Warp erschienen war) inzwischen zurück; seither hat der in Mailand arbeitende Künstler weiter an seiner einzigartigen „Rave Voyeurismus“-Perspektive gefeilt, die Dance-Szene aus einer bewusst gewählten Außenseiterperspektive wie durch einen Spion betrachtet und diese Eindrücke weitergedacht. Seit Jahren verknüpft Senni unterschiedliche Ansätze und Ideen zu einem komplexen Überbau zwischen Kunsttheorie und Umgangssprache, der die spielerischen Kompositionen untermauert...
weiterlesen

Am 24. April 2020 wird der Italiener Lorenzo Senni sein neues Album Scacco Matto veröffentlichen. Es handelt sich dabei um seinen fünften Longplayer und zugleich um sein offizielles Debütalbum für Warp Records. Knapp vier Jahre liegt die Veröffentlichung seiner gefeierten EP Persona (die bereits bei Warp erschienen war) inzwischen zurück; seither hat der in Mailand arbeitende Künstler weiter an seiner einzigartigen „Rave Voyeurismus“-Perspektive gefeilt, die Dance-Szene aus einer bewusst gewählten Außenseiterperspektive wie durch einen Spion betrachtet und diese Eindrücke weitergedacht. Seit Jahren verknüpft Senni unterschiedliche Ansätze und Ideen zu einem komplexen Überbau zwischen Kunsttheorie und Umgangssprache, der die spielerischen Kompositionen untermauert. Für nicht Eingeweihte wirken die Resultate daher oftmals zunächst wie zuckersüße, fast bonbonhafte Neurotransmitter-Salven.

Auf musikalischer Ebene ist Scacco Matto die Fortsetzung von Sennis unverkennbar „pointilistischem“ Stil, in dem sonst abgeschirmte, straffe Sounds unermüdlich zu beatfreien Rhythmen und Melodien umarrangiert werden – was auf dem neuen Album sogar in songähnliche Strukturen mündet. Auf seinem neuesten Statement nimmt er die synthetischen Synapsen-Reize des Trance, lässt aber auch ganz bewusst Kurzschlüsse zu, was zu unerwarteten Signalpfaden führt, zu Bewegung in immer neue Richtungen, zu immer neuen Formen.

Melodien, Motive und Anflüge von Trance, Rave, Pop, ja selbst aus der Klassik tauchen in digitalisierter Form auf, reduziert und nur noch als binäre Schnappschüsse erkennbar, arrangiert wie gedruckte Benday Dots. Die Energie im Midrange-Level, gespickt mit Staccato-Einschnitten und digitalen Ergüssen, die „Discipline of Enthusiasm“ auszeichnet, ist tonangebend; es folgen die breit gestreuten, abgehackten Videogame-Sounds von „XBreaking EdgeX“ und das stroboskopisch-euphorische Kunstlicht von „Move In Silence (Only Speak When It’s Time To Say Checkmate)“.

Das ruhigere „Canone Infinito“ ist ein perfektes Beispiel für den Assoziationsreichtum, die zahlreichen Ideen und Konzepte, auf denen Sennis Tracks basieren: Der Titel ist der italienische Ausdruck für einen Kanon, den man in Kinderreimen genauso wiederfindet wie in den Kompositionen Bachs, wobei das Wort zugleich auf den Titel einer raumbezogenen Installation von Senni Bezug nimmt, die permanent im Papa Giovanni XXIII-Krankenhaus von Bergamo aufgestellt wurde, um den Patient*innen der Intensivstation Trost zu spenden.

Trotz des eindringlichen Staccato von „Dance Tonight Revolution Tomorrow“, ist dieser Track am ehesten als introspektiv und fast schon schwermütig zu bezeichnen, doch auch hier tun sich, wie überall auf der LP, ungeahnte Tiefen auf, die erst dann erkennbar werden, wenn man etwas genauer hinhört. Das liegt auch daran, dass sich Senni immer wieder an klassischer Musik orientiert.

Im abschließenden Viertel setzt der Italiener auf noch kompromisslosere und einzigartige Klangformen: Da wären die an Super Mario erinnernden Jumps im wahnwitzigen Meta-Track „Wasting Time Writing Lorenzo Senni Songs“ oder auch der künstliche Beigeschmack von „THINK BIG“ – dessen gestutztes Geschnalze den postmodernen Überfluss endgültig auf die Spitze bringt, das Ganze aber dann doch noch in geordnete Bahnen leitet, die spannend klingen und intellektuell anspruchsvoll sind.

„Es gibt immer einen Zug und dann gleich den Gegenzug.“

„Der Albumtitel ist Italienisch für ‘Schachmatt’, weil sich durch sämtliche Tracks so etwas wie ein ‘Gegner’ zieht – als ob ich damit eine Partie Schach gegen mich selbst spielen würde. Tatsächlich habe ich versucht, mit der Musik bis auf ein bestimmtes Feld vorzudringen, um dann in einem günstigen Moment einfach die Seite zu wechseln und eine andere Position einzunehmen. Ich wollte sehen, wie weit ich inzwischen mit den Ideen gehen kann, die ich seit Quantum Jelly entwickelt habe. Um das zu schaffen, musste ich mir selbst zunächst unterschiedliche Limitierungen und Grenzen auferlegen“, erläutert Senni.

Während der Aufnahmen sah das dann so aus, dass er konkrete Manöver gegen seine eigenen vorangegangenen Züge entwarf, er als sein eigener Gegenspieler immer wieder disruptiv arbeitete und sich so zum erneuten Reagieren zwang: Anstatt einer gradlinigen Vorgehensweise ergab sich so ein Zick-Zack-Kurs – weil die Hindernisse den Kurs immer wieder in neue, unerwartete Richtungen lenkten.

Besagte Herangehensweise ist auch im Cover-Artwork von Scacco Matto erkennbar, einem Bild des US-Fotografen John Divola, das zunächst eine pittoreske kalifornische Sonnenuntergangsszenerie zeigt, fotografiert jedoch durch einen kaputten Fensterrahmen, auf dem pointilistische schwarze Farbtupfer zu sehen sind. „Für mich funktioniert der packende, unglaublich schöne Sonnenuntergang, der von dieser verunstalteten Wand in Divolas Bild Zuma #30 eingerahmt wird, so, dass das Epische dieses Ausblicks zum Teil ausgehebelt wird: Man wird dadurch sofort wieder zurückgeholt in die Wirklichkeit. Das entspricht genau meinem Ansatz, nämlich emotional aufgeladene Musik zu machen, die von Limitierungen definiert wird, aber immer in einen konzeptionellen Kontext eingebettet ist. Auch ich finde, dass man beide Elemente braucht, die nebeneinander im selben Werk existieren“, sagt Senni (der zusammen mit dem 1949 geborenen Divola auch die Pressebilder für den Release geschossen hat).

So spiegle Divolas fotografische Arbeit die Herangehensweise von Senni wider: Auch er zerstört in seinen Kompositionen keineswegs die existierenden Formen von Dance Music, aber er vandalisiert und verwüstet sie durchaus. Er zerschlägt sie und spielt dann Schach mit den Bruchstücken, baut so neue Spannung auf, die letztlich doch wieder in eine Auflösung münden. Scacco Matto ist das Schachmatt. Der Punkt, an dem Arbeit, Strategie und kreative Taktik kulminieren.

--

Lorenzo Senni war nie ein Raver. Aufgewachsen in Rimini, erlebte der Künstler nach und nach mit, wie seine Freunde eintauchten in diese ganz eigene Welt der Neonfarben, die so ganz anders war als seine eigene. Er war fasziniert, hingezogen zu dieser so andersartigen Kultur. Er selbst war Teil der Straight Edge/Hardcore/Punk-Szene seiner Stadt, spielte Schlagzeug als Teenager, hatte das goldene Zeitalter von Trance und Gabber nur anekdotenhaft mitbekommen. Kurzum: Senni wurde ein „Rave-Voyeur“. Er studierte den gelebten Hedonismus der anderen aus sicherer Distanz. War fasziniert von diesem schillernden Maximalismus, der auch für ihn seinen Charme hatte.

Als Senni im Jahr 2012 Quantum Jelly veröffentlichte, markierte das den Startschuss für eine größere Aufgabe: Indem er die Ästhetik und die Sprache der Dance-Welt benutzte (vor allem den „Supersaw“-Preset des legendären JP-8000 Synthesizers von Roland), konnte er seine Neugier als Außenseiter in konkrete Experimente verwandeln – wofür er den Ausdruck „pointillistic trance“ schuf. Andere Begriffe von ihm sind das bereits erwähnte Voyeur-Sein („rave-voyeurism“) und „circumscribed euphoria“ – „begrenzte Euphorie“.

Es gab noch weitere Widersprüche, die er zum Fundament seiner Arbeit machte: Als geübter Schlagzeuger setzte er gerade nicht auf Drumsounds. Als ewig nüchterner Zuhörer interpretierte er nun jene Signale, die so eng mit Drogenerfahrungen verbunden waren. Jede seiner bisherigen Veröffentlichungen entwickelte jene ursprüngliche Idee weiter – und auch im öffentlichen Raum erweiterte er diese Perspektive: Indem er Klangskulpturen schuf, seine komplexe Beziehung zum Phänomen Dance Music noch ganz anders präsentierte.

Ausgestellt hat und/oder aufgetreten ist Lorenzo Senni bereits in zahlreichen renommierten Museen und Kunsträumen: So z.B. in der Tate Modern (London), Serpentine (London), ICA (London), Venice Biennale 2019, Centre Pompidou (Paris), Zeiss-Großplanetarium (Berlin), Spazio Maiocchi (Mailand), Gasconade (Mailand), Fondazione Pirelli Hangar Bicocca (Mailand), Empty Gallery (Hongkong), WWW (Tokio), Macba (Barcelona), Casa da Musica (Porto), Auditorium Rai (Turin) 1M3 (Lausanne) und im S.M.A.K. (Gent).

Dazu hat er als Komponist Soundtracks für die preisgekrönten Filme The Challenge und Da Vinci von Yuri Ancarani geschrieben, wie auch für Isaac Locks You Will Be With Us In Paradise. Auch für Tanzperformances von Wayne McGregor (+/- Human) und Michele Rizzo (Higher) komponierte er die Musik.

Seine bisherigen Releases erschienen bei Warp Records, Editions Mego, Kesh, Boomkat Editions sowie bei seinem eigenen Label Presto?!, auf dem auch Kollegen wie Gabor Lazar, Donato Dozzy, Gabber Eleganza, Florian Hecker, Palmistry und DJ Stingray veröffentlicht haben.

weniger lesen
On 24th April the truly unique talent Lorenzo Senni presents ‘Scacco Matto’ – his debut album for Warp and 5th longplayer in total. Nearly 4 years have elapsed since his acclaimed ‘Persona’ EP release, and in that time, the Milan-based multi-disciplinary artist has further developed his outsider-looking-in-concept of “Rave Voyeurism”, building ideas into a richly multifaceted world of art theory and vernacular that supports the playful music, which to the uninformed may initially appear as saccharine, candy-crushed neurotransmissions...
read more

On 24th April the truly unique talent Lorenzo Senni presents ‘Scacco Matto’ – his debut album for Warp and 5th longplayer in total. Nearly 4 years have elapsed since his acclaimed ‘Persona’ EP release, and in that time, the Milan-based multi-disciplinary artist has further developed his outsider-looking-in-concept of “Rave Voyeurism”, building ideas into a richly multifaceted world of art theory and vernacular that supports the playful music, which to the uninformed may initially appear as saccharine, candy-crushed neurotransmissions.

Musically ‘Scacco Matto’ is a continuation of Senni’s distinctive “pointillistic” style - where gated, taut sounds are arranged relentlessly as drumless rhythms and melody, which this time come in more song based structures. On this bold sonic statement, he takes the synthetic synapse manipulation of trance, but intentionally encourages short circuits, resulting in unexpected signal paths moving in different directions, and making new shapes.

Melodies and motifs from trance, rave, pop and even classical appear digitised, reduced to binary snapshots and arranged like a Ben Day dot process. The midrange energy, staccato stabs and digital downpour of ‘Discipline of Enthusiasm’ sets the tone with forthright immediacy, continuing through the scattergun videogame stutter of ‘XBreaking EdgeX’ and into the stroboscopic, euphoric artifice of ‘Move In Silence (Only Speak When It’s Time To Say Checkmate)’.

The calmer respite of ‘Canone Infinito’ is a prime example of the multi-layered associations and ideas behind Senni’s recordings, with its title referencing the Italian term for musical rounds found both in children’s rhymes and the work of Bach, but also sharing a name with his site-specific installation – designed to comfort people at the Intensive Care Unit of The Papa Giovanni XXIII Hospital in Bergamo.

Although featuring a prominent and persistent staccato, ‘Dance Tonight Revolution Tomorrow’ is the closest the album comes to more subdued and plaintive reflection, which like all of the record, reveals hidden depths upon closer listening, utilising as it does sophisticated practices, often based in orchestral music.

As the record comes to its closing quarter, Senni negotiates audio into even more uncompromising and singular forms, with the Mario-jumping madness of ‘Wasting Time Writing Lorenzo Senni Songs’ and the artificial flavors of ‘THINK BIG’’s clipped chirruping upping the postmodern deluge, but processing it into something ordered, exciting, and of intellectual worth.

“The title means ‘check mate’ in Italian, and there’s a constant ‘opponent’ within the tracks – like I was playing a chess game with myself. I was really trying to bring the music to a certain place and then switch advantageously to another approach. I wanted to see how far I could push the ideas I’ve been developing since 'Quantum Jelly’ and in order to do that, I needed to force self-imposed limits and rules”, explains Senni.

When recording, such rules saw him countering his own last move, as an opponent whose every turn causes a disruption which requires a reaction – moving back-and-forth rather than straight forwards – the obstructions forcing an endeavour that moves in unexpected and interesting ways.

This is reflected in the LP’s artwork – an image from acclaimed American photographer John Divola, which shows a picturesque Californian view, shot through a dilapidated window frame dotted with pointillistic globs of black paint. “To me, the touching rich and vibrant sunset framed by the vandalized wall in Divola's Zuma #30 photograph, limits the epicness of the view and brings you back to reality. It perfectly aligns with my intentions to create emotionally charged music, restricted but guided by a more conceptual context, and the need for these two elements to coexist in the same piece”, says Lorenzo.

Senni sees his own practice reflected in Divola's work; he is not destroying dance music, but vandalizing it. He’s smashing it to pieces and playing chess with shards – creating tension and ultimately finding resolution. ‘Scatto Matto’ is check mate – the culmination of work, strategy and creative mental process.

--

Lorenzo Senni was never a raver. Growing up in Rimini, the young artist was fascinated by dance culture as he witnessed close friends interact with a neon-hued chemical world that remained at odds with his own. He inhabited the local straight edge hardcore punk scene, a teenage drummer who absorbed the golden age of trance and gabber anecdotally. Senni was a rave voyeur, studying hedonism from a distance, fascinated by its maximalist, expressive charm.

When Senni released ‘Quantum Jelly’ in 2012, it marked the beginning of an ongoing challenge. Using the aesthetic language of dance music (most notably the ‘Supersaw’ preset on Roland's iconic JP-8000 synthesizer), he allowed his outsider's curiosity to inform experimentation he branded "pointillistic trance", alongside other terms such as "rave-voyeurism" and "circumscribed euphoria”.

Senni's suite of contradictions only added to the puzzle: a trained percussionist who completely avoided the use of drums, a sober listener reinterpreting the signals of tracks rooted in the drug experience. Each record since then has refined this initial idea; he has learned in public, sculpting his sound and unpacking his shifting relationship with dance music.

Senni has exhibited and/or performed at museums and art organisations including Tate Modern (London), Serpentine (London), ICA (London), Venice Biennale 2019, Centre Pompidou (Paris), Zeis Gross Planetarium (Berlin), Spazio Maiocchi (Milan), Gasconade (Milan), Fondazione Pirelli Hangar Bicocca (Milan), Empty Gallery (Hong-Kong), WWW (Tokyo), Macba (Barcelona), Casa da Musica (Porto), Auditorium Rai (Torino) 1M3 (Lausanne) and S.M.A.K. (Ghent).

He has composed soundtracks for Yuri Ancarani’s award-winning movies ‘The Challenge’ and ‘Da Vinci’, Isaac Lock’s ‘You Will Be With Us In Paradise’, plus music for dance performances by Wayne McGregor (‘+/- Human’) and Michele Rizzo (‘Higher’).

His discography counts releases on Warp, Editions Mego, Kesh, Boomkat Editions and his label own Presto?!, which also features Gabor Lazar, Donato Dozzy, Gabber Eleganza, Florian Hecker, Palmistry and DJ Stingray in its catalogue.

“Stunningly nimble neo -trance anthem from the italian producer recently signed to Warp” – Guardian

“One of this years finest records” – Fact

“A diamond-cut alloy of euphoria and hyperreal sound design” – Resident Advisor

“Pure euphoria with a winding melancholic edge” – The Wire

read less